Konsent-Workshop: Entscheidungen ohne Konsens

Die Methode stammt aus der Soziokratie, einem Governance-Modell, das in den 1970er Jahren von Gerard Endenburg entwickelt wurde. Heute wird Konsent in agilen Teams, Genossenschaften, Non-Profits und zunehmend auch in Unternehmen eingesetzt. Der Grund: Konsent-Entscheidungen sind 2–3 Mal schneller als Konsens-Entscheidungen, ohne dass die Qualität leidet (Sociocracy For All Research 2024).
Konsent vs. Konsens: Der entscheidende Unterschied
Konsens bedeutet Zustimmung aller – jeder muss „Ja" sagen. Konsent bedeutet Fehlen von Einwänden – niemand sagt „Das kann ich nicht mittragen".
| Aspekt | Konsens | Konsent |
|---|---|---|
| Frage | „Stimmen alle zu?" | „Hat jemand einen schwerwiegenden Einwand?" |
| Ziel | Perfekte Lösung für alle | Tragbare Lösung für alle |
| Blockade | Jeder kann mit „Nein" blockieren | Nur begründete Einwände blockieren |
| Geschwindigkeit | Oft sehr langsam | Deutlich schneller |
| Ergebnis | Kompromiss zum kleinsten Nenner | Arbeitsfähige Lösung |
Der psychologische Unterschied ist enorm. Bei Konsens muss ich aktiv zustimmen – das fühlt sich nach Verantwortung an. Bei Konsent muss ich nur keinen Einwand haben – das ist eine niedrigere Schwelle. Und: Ich muss meinen Einwand begründen, was Veto-Missbrauch verhindert.
Was ist ein schwerwiegender Einwand?
Ein schwerwiegender Einwand ist kein bloßes „Das gefällt mir nicht", sondern ein begründeter Hinweis, dass der Vorschlag das gemeinsame Ziel gefährden würde. Die Frage ist nicht „Findest du das gut?", sondern „Kannst du damit arbeiten?".
Merkmale eines validen Einwands
- Bezug zum Ziel: Der Einwand zeigt, dass der Vorschlag das gemeinsame Ziel gefährdet
- Begründung: Es gibt ein Argument, nicht nur ein Gefühl
- Konstruktiv: Der Einwand enthält idealerweise einen Verbesserungsvorschlag
Was kein valider Einwand ist
- „Ich hätte es anders gemacht" (Präferenz, kein Einwand)
- „Das ist nicht perfekt" (Konsent sucht nicht Perfektion)
- „Ich bin dagegen" ohne Begründung (Veto ohne Substanz)
- „Meine Idee war besser" (Ego, kein Einwand)
- „Ich hätte lieber Dienstag als Mittwoch" → Präferenz, kein Einwand
- „Am Mittwoch fehlen zwei Schlüsselpersonen, wir können keine fundierte Entscheidung treffen" → Valider Einwand
Der Konsent-Prozess im Detail
Schritt 1: Vorschlag vorstellen
Eine Person präsentiert einen konkreten Vorschlag. Nicht „Was sollen wir tun?", sondern „Ich schlage vor, dass wir X tun."
Der Vorschlag sollte sein:
- Konkret und umsetzbar
- Schriftlich formuliert (alle sehen denselben Text)
- Mit Begründung versehen
Schritt 2: Verständnisfragen
Teilnehmer stellen Fragen zum Verständnis – keine Bewertung, keine Diskussion. Ziel: Alle verstehen den Vorschlag gleich.
Erlaubt:
- „Was meinst du mit...?"
- „Gilt das auch für...?"
- „Wer wäre verantwortlich für...?"
- „Ich finde das problematisch, weil..."
- „Das wird nicht funktionieren, weil..."
Schritt 3: Reaktionsrunde
Jeder äußert kurz seine erste Reaktion auf den Vorschlag. Keine Diskussion zwischen den Reaktionen – jeder spricht einmal.
Typische Reaktionen:
- „Gefällt mir grundsätzlich, aber..."
- „Ich habe Bedenken bezüglich..."
- „Ich sehe einen möglichen Konflikt mit..."
- „Klingt sinnvoll für mich."
Schritt 4: Vorschlag anpassen (optional)
Basierend auf den Reaktionen kann der Vorschlagende seinen Vorschlag anpassen. Das ist optional – manchmal bleibt der Vorschlag unverändert.
Schritt 5: Einwandrunde
Der entscheidende Moment: „Hat jemand einen schwerwiegenden Einwand gegen diesen Vorschlag?"
Die Frage geht reihum – jeder antwortet:
- „Kein Einwand" (oder Handsignal)
- „Ich habe einen Einwand: [Begründung]"
Schritt 6: Einwände integrieren
Wenn ein Einwand vorliegt, wird er nicht bekämpft, sondern integriert. Der Einwand enthält wertvolle Information darüber, was der Vorschlag noch nicht berücksichtigt.
Möglichkeiten zur Integration:
- Vorschlag modifizieren: Element hinzufügen/entfernen, das den Einwand adressiert
- Testphase: Vorschlag zeitlich begrenzen und dann evaluieren
- Teilumsetzung: Nur den Teil umsetzen, der keinen Einwand hat
- Weiteres Gespräch: Mehr Information sammeln, bevor entschieden wird
Konsent-Workshop: 60-Minuten-Format
Vorbereitung (vor dem Workshop)
- Thema und Vorschlag vorab formulieren
- Alle Teilnehmer informieren
- Raum mit Kreis oder U-Form
Ablauf
| Phase | Zeit | Aktivität |
|---|---|---|
| Opening | 5 Min. | Check-in, Prozess erklären |
| Vorschlag | 5 Min. | Vorschlag vorstellen und schriftlich zeigen |
| Verständnisfragen | 10 Min. | Klärung, keine Bewertung |
| Reaktionsrunde | 10 Min. | Jeder äußert kurz seine Reaktion |
| Anpassung | 5 Min. | Vorschlagender passt ggf. an |
| Einwandrunde | 10 Min. | Einwände sammeln |
| Integration | 10 Min. | Einwände integrieren, erneut fragen |
| Closing | 5 Min. | Entscheidung bestätigen, nächste Schritte |
Moderation: Die Kunst der Neutralität
Der Moderator im Konsent-Prozess hält den Prozess, nicht die Position. Er achtet darauf, dass die Phasen eingehalten werden und dass Einwände fair behandelt werden.
Aufgaben des Moderators
- Prozess erklären und Phasen führen
- Verständnisfragen von Reaktionen trennen
- Reaktionen von Einwänden unterscheiden helfen
- Einwandintegration moderieren
- Tempo halten
Hilfreiche Formulierungen
- „Das klingt wie eine Reaktion – wir sind noch bei den Verständnisfragen. Kannst du das für später aufheben?"
- „Ist das ein Einwand oder eine Präferenz? Würde dieser Vorschlag dich hindern, deine Arbeit gut zu machen?"
- „Wie könnten wir den Vorschlag ändern, um deinen Einwand zu adressieren?"
- „Gibt es jemanden, der mit dieser Modifikation nicht leben kann?"
Typische Herausforderungen
Challenge 1: Alles wird zum Einwand
Problem: Teilnehmer erheben Einwände zu jeder Präferenz, die nicht erfüllt wird.
Lösung:
- Die Unterscheidung zwischen Einwand und Präferenz üben
- Explizit fragen: „Würde dieser Vorschlag dich hindern, deine Arbeit gut zu machen?"
- Die Hürde für Einwände klar machen: Es geht um das gemeinsame Ziel, nicht um persönliche Vorlieben
Challenge 2: Niemand traut sich Einwände zu äußern
Problem: In hierarchischen Kulturen halten Menschen Einwände zurück.
Lösung:
- Psychologische Sicherheit aufbauen (unabhängig von Konsent)
- Betonen, dass Einwände wertvolle Information sind
- Als Führungskraft selbst Einwände äußern und integrieren lassen
- Anonyme Einwandmöglichkeit in frühen Phasen
Challenge 3: Ein Einwand blockiert alles
Problem: Ein Teilnehmer blockiert mit Einwand, der schwer integrierbar scheint.
Lösung:
- Einwand ernst nehmen und verstehen
- Fragen: „Was müsste der Vorschlag enthalten, damit du keinen Einwand hast?"
- Testphase vorschlagen mit Evaluation
- Ggf. mehr Information sammeln und später entscheiden
Challenge 4: Endlose Integration
Problem: Jede Integration erzeugt neue Einwände.
Lösung:
- Timeboxen: Max. 3 Integrationsrunden, dann vertagen
- Kleinstmögliche Änderung suchen, die den Einwand adressiert
- Fragen: „Ist diese Lösung gut genug für jetzt? Wir können später anpassen."
Konsent in verschiedenen Kontexten
Agile Teams
Konsent passt hervorragend zu agilen Werten: Entscheidungen werden schnell getroffen, können aber revidiert werden. Viele Scrum-Teams nutzen Konsent für Team-Working-Agreements, Prozessänderungen und Rollenverteilungen.
Selbstorganisierte Teams
In Holacracy und Soziokratie ist Konsent das Standard-Entscheidungsverfahren für Governance-Fragen. Es erlaubt schnelle Entscheidungen ohne Chef, weil niemand „Ja" sagen muss – nur keine Einwände haben.
Genossenschaften und Non-Profits
Organisationen mit demokratischen Werten nutzen Konsent, weil es inklusiver ist als Mehrheitsentscheid (Minderheiten können Einwände erheben) und schneller als Konsens.
Konsent vs. andere Entscheidungsmethoden
| Methode | Geschwindigkeit | Inklusion | Wann nutzen |
|---|---|---|---|
| Autokratisch | Sehr schnell | Niedrig | Notfälle, klare Verantwortlichkeit |
| Beratend | Schnell | Mittel | Expertise-Entscheidungen |
| Mehrheit | Mittel | Mittel | Große Gruppen, weniger wichtige Entscheidungen |
| Konsent | Mittel-schnell | Hoch | Team-Entscheidungen, Governance |
| Konsens | Langsam | Sehr hoch | Wertegrundsätze, existenzielle Fragen |
Konsent ist die Mitte: Schneller als Konsens, inklusiver als Mehrheit. Für die meisten Teamentscheidungen der Sweet Spot.
Remote Konsent-Entscheidungen
Konsent funktioniert auch remote – mit Anpassungen für die fehlende nonverbale Kommunikation.
Synchron (Video-Call)
- Vorschlag vorab schriftlich teilen
- Reaktionsrunde: Jeder schreibt in den Chat, dann wird vorgelesen
- Einwandrunde: Explizites Handzeichen oder Chat-Abfrage
- Mehr Zeit einplanen als physisch
Asynchron (Tools wie Loomio, Decidim)
- Vorschlag schriftlich einstellen
- Zeitfenster für Verständnisfragen (z.B. 24 Stunden)
- Zeitfenster für Reaktionen (z.B. 48 Stunden)
- Einwandrunde mit Deadline
- Funktioniert gut für verteilte Teams und nicht-dringende Entscheidungen
Konsent einführen: Erste Schritte
Start klein
Beginne mit Entscheidungen, die:
- Niedriges Risiko haben (falls es nicht klappt)
- Alle Beteiligten betreffen
- Aktuell ineffizient entschieden werden
Training für das Team
- Konzept von Konsent vs. Konsens erklären
- Die Unterscheidung Einwand vs. Präferenz üben
- Erste Konsent-Runden mit einfachen Themen durchführen
- Retrospektive: Was hat funktioniert, was nicht?
Erwartungen managen
Konsent braucht Übung. Die ersten Runden werden holprig sein. Das ist normal. Die Methode entfaltet ihren Wert über Zeit, wenn das Team die Unterscheidungen internalisiert.
Fazit: Schneller entscheiden, ohne Qualität zu verlieren
Konsent ist keine Kompromisslösung und kein „Konsens light" – es ist ein eigenständiges Entscheidungsprinzip mit eigener Philosophie. Die Frage „Kann jemand nicht damit leben?" respektiert, dass Perfektion unmöglich ist, während sie sicherstellt, dass niemand übergangen wird.
Für Teams, die unter endlosen Konsens-Diskussionen leiden oder unter autokratischen Entscheidungen, die Widerstand erzeugen, ist Konsent der Mittelweg. Schnell genug für agile Umgebungen, inklusiv genug für demokratische Kulturen.
Der nächste Schritt: Eine einfache Entscheidung mit Konsent treffen. Die Erfahrung, dass es funktioniert – dass Einwände integriert werden und eine tragbare Lösung entsteht – überzeugt mehr als jede Erklärung.
Was, wenn jemand aus Prinzip immer Einwände erhebt?
Einwände müssen begründet sein und sich auf das gemeinsame Ziel beziehen. Unbegründete Einwände sind keine validen Einwände. Der Moderator kann fragen: „Wie gefährdet dieser Vorschlag unser gemeinsames Ziel?" Wenn keine substanzielle Antwort kommt, ist es kein Einwand.
Ist Konsent nicht Konsens mit anderem Namen?
Nein. Konsens fragt nach aktiver Zustimmung („Alle dafür?"), Konsent fragt nach Fehlen von Einwänden („Niemand dagegen?"). Die Schwelle ist niedriger, der Fokus anders. Konsent akzeptiert „Ich bin nicht begeistert, aber ich kann damit leben."
Wie schnell ist Konsent wirklich?
Abhängig vom Thema und der Übung des Teams. Einfache Entscheidungen: 5–10 Minuten. Komplexe Themen: 30–60 Minuten. Verglichen mit Konsens (oft Stunden oder mehrere Meetings) ist Konsent deutlich schneller.
Kann ich Konsent in hierarchischen Organisationen nutzen?
Ja, aber es braucht Kulturwandel. Führungskräfte müssen bereit sein, dass ihre Vorschläge Einwände erhalten und modifiziert werden. Konsent funktioniert am besten, wenn psychologische Sicherheit besteht.
Was passiert mit Entscheidungen, die sich als falsch erweisen?
In der Soziokratie haben alle Entscheidungen ein Ablaufdatum – einen Zeitpunkt, an dem sie überprüft werden. Konsent-Entscheidungen sind nicht in Stein gemeißelt. Wenn neue Informationen vorliegen, kann ein neuer Vorschlag gemacht werden.
Stand: Dezember 2025
Quellen: Sociocracy For All – Consent Decision Making Resources Gerard Endenburg – Sociocracy: The Organization of Decision Making Soziokratie 3.0 – Patterns und Praktiken Ted Rau & Jerry Koch-Gonzalez – Many Voices One Song (2018)


