Kraft-Feld-Analyse: Was treibt, was bremst die Veränderung?

Das Geniale: Lewin entdeckte, dass es oft einfacher ist, Widerstände zu reduzieren, als Druck zu erhöhen. Wer nur pusht, erzeugt Gegendruck. Wer Hindernisse abbaut, ermöglicht Bewegung. Ein Workshop zur Kraft-Feld-Analyse macht diese Dynamik sichtbar und actionable.
Das Konzept von Kurt Lewin
Lewin sah Organisationen als Systeme im Gleichgewicht – gehalten von entgegengesetzten Kräften.
Die Grundidee
TREIBENDE KRÄFTE HEMMENDE KRÄFTE
(Driving Forces) (Restraining Forces)
────────────────► ◄────────────────
────────────────► ◄────────────────
────────────────► STATUS ◄────────────────
────────────────► QUO ◄────────────────
────────────────► ◄────────────────
Veränderung geschieht, wenn:
Treibende Kräfte > Hemmende Kräfte
Lewins Erkenntnis
„Veränderung tritt ein, wenn das Gleichgewicht zwischen Kräften, die den Status Quo aufrechterhalten, gestört wird."
Drei Strategien für Veränderung:
Lewins Empfehlung: Option 2 ist oft wirksamer. Mehr Druck erzeugt oft mehr Widerstand (wie bei Newtons drittem Gesetz: Aktion = Reaktion).
Das Kraft-Feld-Diagramm
Eine visuelle Darstellung aller Kräfte, die auf eine geplante Veränderung wirken.
Aufbau
┌──────────────────────────────────────────────────────────────────┐
│ VERÄNDERUNGSZIEL: │
│ [Konkret formuliertes Ziel eintragen] │
├──────────────────────────────────────────────────────────────────┤
│ │
│ TREIBENDE KRÄFTE │ HEMMENDE KRÄFTE │
│ (Für die Veränderung) │ (Gegen die Veränderung) │
│ │ │
│ ═══════════════════► (5) │ (4) ◄═══════════════════ │
│ ══════════════► (4) │ (5) ◄════════════════════ │
│ ════════► (3) │ (3) ◄════════ │
│ ══════════════► (4) │ (2) ◄════ │
│ ════► (2) │ (4) ◄════════════ │
│ │ │
│ Summe: 18 │ Summe: 18 │
│ │ │
├──────────────────────────────────────────────────────────────────┤
│ GLEICHGEWICHT → Keine Veränderung │
│ Aktion nötig: Treiber stärken ODER Hemmer reduzieren │
└──────────────────────────────────────────────────────────────────┘
Stärke der Kraft: 1 (schwach) bis 5 (stark)
Typische treibende Kräfte
| Kategorie | Beispiele |
|---|---|
| Markt & Wettbewerb | Kundennachfrage, Wettbewerbsdruck, Marktveränderungen |
| Technologie | Neue Möglichkeiten, Effizienzgewinne, Automatisierung |
| Regulation | Gesetzliche Anforderungen, Compliance |
| Intern | Managementdirektiven, Kostendruck, Qualitätsprobleme |
| Menschen | Mitarbeiter-Motivation, Verbesserungsvorschläge, Unzufriedenheit mit Status Quo |
Typische hemmende Kräfte
| Kategorie | Beispiele |
|---|---|
| Strukturell | Etablierte Prozesse, Silos, Legacy-Systeme |
| Ressourcen | Fehlende Zeit, Budget, Personal |
| Kulturell | „Das haben wir schon immer so gemacht", Risikoaversion |
| Emotional | Angst vor Jobverlust, Unsicherheit, Komfortzone |
| Politisch | Machtverlust, territoriales Verhalten, versteckte Agenden |
Workshop-Ablauf: 2–3 Stunden
Vorbereitung
Teilnehmer:
- Projektteam
- Betroffene Führungskräfte
- Vertreter betroffener Teams
- Change Manager
- Großes Flipchart oder Whiteboard mit Kraft-Feld-Template
- Sticky Notes (zwei Farben: Treiber/Hemmer)
- Marker
- Oder: Digitales Board (Miro, Mural)
Phase 1: Das Veränderungsziel definieren (15 Minuten)
Klarheit über das, was verändert werden soll.
- Was genau wollen wir erreichen?
- Wie sieht der Zielzustand aus?
- Formulierung in einem Satz (konkret, messbar wenn möglich)
- „Einführung von agilen Arbeitsmethoden im gesamten Produktteam bis Q2"
- „Migration aller Kundendaten in das neue CRM-System"
- „Reduzierung der Meetingzeit um 30%"
Phase 2: Treibende Kräfte identifizieren (25 Minuten)
Welche Kräfte sprechen für die Veränderung?
Brainstorming-Fragen:
- Warum ist diese Veränderung notwendig?
- Wer oder was treibt sie voran?
- Welche externen Faktoren sprechen dafür?
- Welche internen Faktoren unterstützen sie?
- Wer würde davon profitieren?
- Jeder schreibt Kräfte auf grüne Sticky Notes (5 Min. still)
- Vorstellen und auf die linke Seite des Diagrams kleben
- Clustern ähnlicher Kräfte
- Kurze Diskussion zur Klarstellung
Phase 3: Hemmende Kräfte identifizieren (25 Minuten)
Welche Kräfte arbeiten gegen die Veränderung?
Brainstorming-Fragen:
- Wer könnte sich widersetzen? Warum?
- Welche strukturellen Hindernisse gibt es?
- Was könnte die Umsetzung erschweren?
- Welche Ängste oder Bedenken existieren?
- Was haben wir in der Vergangenheit gelernt?
- Jeder schreibt Kräfte auf rote Sticky Notes (5 Min. still)
- Vorstellen und auf die rechte Seite kleben
- Clustern ähnlicher Kräfte
- Ehrliche Diskussion (keine Tabus!)
Phase 4: Kräfte bewerten (20 Minuten)
Wie stark ist jede Kraft?
Skala: 1 (schwach) bis 5 (stark)
Bewertungskriterien:
- Treibende Kräfte: Wie stark drückt diese Kraft auf Veränderung?
- Hemmende Kräfte: Wie stark hält diese Kraft den Status Quo?
- Gruppe diskutiert jede Kraft
- Konsens oder Mehrheitsentscheidung
- Stärke als Zahl oder Pfeillänge visualisieren
Phase 5: Analyse und Priorisierung (20 Minuten)
Wo setzen wir an?
Fragen zur Analyse:
- Welche hemmenden Kräfte können wir beeinflussen?
- Welche treibenden Kräfte können wir verstärken?
- Wo ist der Hebel am größten?
- Was können wir nicht beeinflussen (und müssen akzeptieren)?
| Kraft | Stärke | Beeinflussbarkeit | Priorität |
|---|---|---|---|
| Hoch-Stärke + Hoch-Beeinflussbarkeit | → | Höchste Priorität | |
| Hoch-Stärke + Niedrig-Beeinflussbarkeit | → | Akzeptieren/Umgehen | |
| Niedrig-Stärke + Hoch-Beeinflussbarkeit | → | Quick Wins | |
| Niedrig-Stärke + Niedrig-Beeinflussbarkeit | → | Ignorieren |
Phase 6: Maßnahmen entwickeln (30 Minuten)
Konkrete Aktionen planen.
Für hemmende Kräfte (Reduktion):
- Wie können wir diese Kraft abschwächen?
- Können wir das Hindernis entfernen?
- Können wir die Ursache adressieren?
- Wie können wir diese Kraft stärker nutzen?
- Können wir sie sichtbarer machen?
- Können wir Verbündete aktivieren?
| Kraft | Aktion | Verantwortlich | Bis wann |
|---|---|---|---|
| Beispiel | Beispiel | Beispiel | Beispiel |
Phase 7: Abschluss und nächste Schritte (15 Minuten)
Ergebnisse sichern.
- Diagramm fotografieren/dokumentieren
- Maßnahmen mit Verantwortlichkeiten festhalten
- Review-Termin vereinbaren
- Kommunikation der Ergebnisse planen
Lewins Drei-Phasen-Modell
Die Kraft-Feld-Analyse ist eingebettet in Lewins Veränderungsmodell.
Die drei Phasen
┌─────────────────────────────────────────────────────────────────┐
│ │
│ UNFREEZE CHANGE/MOVE REFREEZE │
│ (Auftauen) (Verändern) (Einfrieren) │
│ │
│ • Bewusstsein • Neue Verhaltens- • Neue Verhaltens- │
│ schaffen weisen einführen weisen verankern │
│ • Dringlichkeit • Widerstände • Strukturen │
│ erzeugen adressieren anpassen │
│ • Bereitschaft • Unterstützung • Erfolge feiern │
│ fördern bieten │
│ │
│ Kraft-Feld- Kraft-Feld- Kraft-Feld- │
│ Analyse hier Maßnahmen hier Stabilisierung hier │
│ │
└─────────────────────────────────────────────────────────────────┘
Integration
- Unfreeze: Kraft-Feld-Analyse durchführen, Bewusstsein für Kräfte schaffen
- Change: Maßnahmen umsetzen, Hemmer reduzieren, Treiber stärken
- Refreeze: Neue Balance stabilisieren, Rückfall verhindern
Praktische Beispiele
Beispiel 1: Einführung von Remote Work
Ziel: 3 Tage Homeoffice pro Woche für alle Teams
| Treibende Kräfte | Stärke | Hemmende Kräfte | Stärke |
|---|---|---|---|
| Mitarbeiterwunsch | 5 | Führungskräfte-Skepsis | 4 |
| Fachkräftemangel (Attraktivität) | 4 | Fehlende technische Ausstattung | 3 |
| Kostenersparnis Bürofläche | 3 | Angst vor Kontrollverlust | 4 |
| Produktivitätsstudien | 3 | Teamzusammenhalt-Bedenken | 3 |
| Datenschutz-Bedenken | 2 | ||
| Summe: | 15 | Summe: | 16 |
Maßnahmen:
- Führungskräfte-Workshop zur Adressierung von Bedenken (-4)
- Pilot mit freiwilligen Teams als Beweis (+2)
- IT-Ausstattung budgetieren (-3)
Beispiel 2: Einführung neues CRM-System
Ziel: Migration aller Kundendaten und Prozesse bis Ende Q3
| Treibende Kräfte | Stärke | Hemmende Kräfte | Stärke |
|---|---|---|---|
| Veraltetes Altsystem | 5 | Gewohnheit der Nutzer | 4 |
| Mangelnde Integration | 4 | Hoher Schulungsaufwand | 3 |
| Geschäftsführungs-Direktive | 5 | Angst vor Datenverlust | 3 |
| Bessere Reporting-Möglichkeiten | 3 | Zeitdruck im Tagesgeschäft | 4 |
| Vergangene IT-Projekt-Misserfolge | 3 | ||
| Summe: | 17 | Summe: | 17 |
Maßnahmen:
- Change Champions aus Vertrieb identifizieren (+2)
- Schrittweise Migration (reduziert Zeitdruck) (-2)
- Erfolgsgeschichten aus anderen Unternehmen teilen (+1)
Stärken und Grenzen der Methode
Stärken
| Stärke | Beschreibung |
|---|---|
| Visuell | Komplexe Dynamik wird greifbar |
| Partizipativ | Alle Perspektiven fließen ein |
| Actionable | Führt direkt zu konkreten Maßnahmen |
| Einfach | Keine komplexe Methodik nötig |
| Bewährt | Seit Jahrzehnten erfolgreich eingesetzt |
Grenzen
| Grenze | Beschreibung |
|---|---|
| Subjektiv | Bewertungen basieren auf Einschätzungen |
| Vereinfachend | Komplexe Wechselwirkungen nicht abgebildet |
| Konsens nötig | Funktioniert nur bei offener Diskussion |
| Zeitpunkt-Snapshot | Kräfte ändern sich, Analyse kann veralten |
Tipps für effektive Workshops
Psychologische Sicherheit schaffen
Widerstände können nur benannt werden, wenn keine Angst vor negativen Konsequenzen besteht. Der Facilitator muss Offenheit fördern und vertrauliche Behandlung zusichern.
Versteckte Widerstände aufdecken
Oft werden die wahren Hemmer nicht sofort genannt. Nachfragen:
- „Was noch? Was haben wir übersehen?"
- „Was würde ein Skeptiker sagen?"
- „Was sind die unausgesprochenen Bedenken?"
Nicht nur rationale Kräfte
Emotionale Faktoren (Angst, Stolz, Machtverlust) sind oft stärker als rationale Argumente. Explizit danach fragen.
Beeinflussbarkeit prüfen
Nicht alle Kräfte können beeinflusst werden. Fokus auf das, was in der Macht des Teams liegt.
Fazit: Widerstände abbauen statt Druck erhöhen
Die Kraft-Feld-Analyse macht sichtbar, was Veränderung beschleunigt oder bremst. Der Workshop schafft ein gemeinsames Verständnis und einen klaren Aktionsplan.
Lewins zentrale Einsicht bleibt aktuell: Wer nur drückt, erzeugt Gegendruck. Wer Hindernisse abbaut, ermöglicht Bewegung. Die klügste Strategie ist oft nicht mehr Kraft, sondern weniger Widerstand.
Der nächste Schritt: Nimm eine anstehende Veränderung. Zeichne das Kraft-Feld. Identifiziere die stärksten Hemmer. Entwickle eine Maßnahme, um einen davon zu reduzieren. Beobachte, was passiert.
Wie unterscheidet sich die Kraft-Feld-Analyse von einer Pro-Contra-Liste?
Die Kraft-Feld-Analyse geht weiter: Sie bewertet die Stärke jeder Kraft und führt zu konkreten Maßnahmen. Eine Pro-Contra-Liste ist statisch, die Kraft-Feld-Analyse ist dynamisch und handlungsorientiert.
Was, wenn sich das Team bei der Bewertung nicht einig ist?
Unterschiedliche Sichtweisen sind wertvoll – sie zeigen, wo Unklarheit besteht. Diskutiere die Gründe für unterschiedliche Einschätzungen. Wenn nötig: Durchschnitt bilden oder beide Perspektiven dokumentieren.
Wie oft sollte die Analyse aktualisiert werden?
Bei längeren Projekten: alle 4–6 Wochen oder bei signifikanten Veränderungen. Kräfte verschieben sich – was heute ein starker Hemmer ist, kann morgen abgebaut sein.
Kann ich die Analyse allein durchführen?
Ja, aber der Wert liegt im Dialog. Verschiedene Perspektiven decken blinde Flecken auf. Allein durchgeführt, besteht Risiko für einseitige Sicht.
Was, wenn alle Hemmer außerhalb unserer Kontrolle liegen?
Dann ist die Veränderung möglicherweise nicht realistisch – oder das Timing ist falsch. Das ist eine wichtige Erkenntnis. Prüfe: Können wir den Kontext verändern? Müssen wir warten? Gibt es einen anderen Weg zum Ziel?
Stand: Dezember 2025
Quellen: Kurt Lewin – Field Theory in Social Science (1951) Kurt Lewin – Resolving Social Conflicts (1948) Mind Tools – Force Field Analysis ILX Group – Change Management Frameworks


