Ratgeber

World Café: Großgruppen-Methode für kollektive Intelligenz

World Café: Großgruppen-Methode für kollektive Intelligenz
Entwickelt in den 1990er Jahren von Juanita Brown und David Isaacs, ist das World Café heute eines der meistgenutzten Großgruppen-Formate weltweit. Über **100.000 World Cafés** wurden in mehr als 70 Ländern durchgeführt (World Café Community Foundation). Das Format funktioniert für strategische Frag...

Entwickelt in den 1990er Jahren von Juanita Brown und David Isaacs, ist das World Café heute eines der meistgenutzten Großgruppen-Formate weltweit. Über 100.000 World Cafés wurden in mehr als 70 Ländern durchgeführt (World Café Community Foundation). Das Format funktioniert für strategische Fragen, Community-Dialoge, Innovationsprozesse und überall dort, wo kollektive Weisheit gefragt ist.

Wie das World Café funktioniert

Im World Café sitzen Teilnehmer in kleinen Gruppen von 4–6 Personen an Café-Tischen und diskutieren eine Frage. Nach einer festgelegten Zeit wechseln alle bis auf einen „Gastgeber" den Tisch – und bringen ihre Ideen zur nächsten Runde mit. Der Gastgeber fasst für die Neuankömmlinge zusammen, was bisher besprochen wurde. So entstehen Querverbindungen.

Der Grundprozess

PhaseDauerAktivität
Einführung10–15 Min.Kontext, Frage, Regeln erklären
Runde 120–25 Min.Erste Tischgespräche zur Kernfrage
Rotation2–3 Min.Tischwechsel (Gastgeber bleibt)
Runde 220–25 Min.Vertiefte Gespräche, neue Perspektiven
Rotation2–3 Min.Erneuter Tischwechsel
Runde 320–25 Min.Synthese, Muster erkennen
Harvest20–30 Min.Ernte der Erkenntnisse im Plenum

Drei Runden sind das Minimum. Bei komplexen Themen können es vier oder fünf sein. Jede Runde kann dieselbe Frage vertiefen oder eine neue, aufbauende Frage stellen.

Die Café-Etikette

Das World Café hat einfache Regeln, die den Geist des Formats bewahren:

  • Fokus auf das, was zählt: Bei der Frage bleiben
  • Eigene Sichtweisen einbringen: Perspektiven teilen
  • Zuhören, um zu verstehen: Nicht um zu antworten
  • Ideen verbinden: Auf Vorredner aufbauen
  • Gemeinsam zeichnen und schreiben: Auf der Papiertischdecke dokumentieren
  • Spaß haben: Die Café-Atmosphäre genießen
Die Papiertischdecken sind ein Markenzeichen des World Café. Teilnehmer schreiben, zeichnen, kritzeln – die Tischdecke wird zum kollektiven Gedächtnis des Gesprächs.

Die Kraft der richtigen Frage

Eine gute World-Café-Frage ist offen, relevant und berührt die Teilnehmer persönlich. Sie lädt zum Nachdenken ein, hat keine offensichtliche Antwort und kann von verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden. Die Frage ist das wichtigste Designelement – mit einer schwachen Frage scheitert das gesamte Café.

Merkmale starker Café-Fragen

  • Offen: Beginnt mit „Was", „Wie", „Warum" – nicht mit Ja/Nein beantwortbar
  • Relevant: Berührt etwas, das den Teilnehmern wichtig ist
  • Einladend: Weckt Neugier, nicht Defensive
  • Ergebnisoffen: Hat keine „richtige" Antwort
  • Einfach: In einem Satz verständlich

Beispiele für Café-Fragen

KontextSchwache FrageStarke Frage
Strategie„Wie können wir mehr Umsatz machen?"„Was müsste passieren, damit unsere Kunden uns begeistert weiterempfehlen?"
Kultur„Wie verbessern wir die Kommunikation?"„Wann fühlst du dich in diesem Unternehmen wirklich gehört?"
Innovation„Welche neuen Produkte brauchen wir?"„Welches Problem unserer Kunden haben wir noch nicht verstanden?"
Community„Wie aktivieren wir mehr Freiwillige?"„Was würde dich dazu bringen, 10 Stunden deiner Zeit für unsere Sache zu geben?"

Ich habe erlebt, wie eine einzige Wortänderung ein Café transformierte. Die ursprüngliche Frage „Wie können wir unsere Prozesse verbessern?" erzeugte oberflächliche Antworten. Die geänderte Frage „Was frustriert dich jeden Tag bei deiner Arbeit?" öffnete Schleusen. Menschen sprachen plötzlich über echte Probleme.

Raumsetup: Die Café-Atmosphäre schaffen

Der Raum muss sich wie ein echtes Café anfühlen – einladend, informell, mit Tischen statt Reihenbestuhlung. Die physische Umgebung beeinflusst die Gesprächsqualität stärker, als die meisten denken.

Grundausstattung

  • Runde Tische: Ideal für 4–6 Personen (keine rechteckigen Konferenztische)
  • Papiertischdecken: Weiß oder braun, zum Beschreiben
  • Stifte: Bunte Marker an jedem Tisch
  • Dekoration: Blumen, Kerzen (elektrisch), Café-Elemente
  • Verpflegung: Kaffee, Tee, Snacks – die Menschen sollen sich wohlfühlen

Raumberechnung

  • Platzbedarf: Ca. 3–4 m² pro Person
  • Tischanzahl: Teilnehmerzahl geteilt durch 5 (bei 5 Personen pro Tisch)
  • Beispiel: 50 Teilnehmer = 10 Tische, ca. 150–200 m² Raum

Typische Fehler beim Setup

  • Zu große Tische: 8 Personen pro Tisch = oberflächlichere Gespräche
  • Keine Papiertischdecken: Dann fehlt die visuelle Dokumentation
  • Konferenzraum-Atmosphäre: Neonlicht, kahle Wände = keine Café-Stimmung
  • Kein Platz zum Bewegen: Rotation braucht Raum zwischen den Tischen

Moderation: Die Rolle des Café-Hosts

Der Café-Host ist kein klassischer Moderator, sondern ein Gastgeber. Er schafft den Rahmen, erklärt den Prozess, hält die Zeit und erntet die Ergebnisse – aber er mischt sich nicht in die Tischgespräche ein. Die Weisheit liegt in der Gruppe, nicht beim Host.

Aufgaben des Hosts

Vor dem Café:

  • Fragen sorgfältig designen
  • Raum vorbereiten und Atmosphäre schaffen
  • Materialien bereitstellen
  • Tisch-Gastgeber briefen (falls vorab bestimmt)
Während des Café:
  • Prozess und Regeln erklären
  • Zeit ansagen für Rotation
  • Energie im Raum beobachten und ggf. anpassen
  • Harvest moderieren
Nach dem Café:
  • Ergebnisse dokumentieren und aufbereiten
  • Follow-up planen und kommunizieren

Der Harvest: Erkenntnisse ernten

Der Harvest ist der kritische Moment, in dem die Gespräche der einzelnen Tische in kollektive Erkenntnisse transformiert werden. Ohne guten Harvest verpufft die Energie des Cafés.

Harvest-Methoden:

  • Gallery Walk: Tischdecken aufhängen, alle gehen durch und markieren Highlights
  • Popcorn-Sharing: Spontane Wortmeldungen: „Was war für euch die überraschendste Erkenntnis?"
  • Cluster-Bildung: Ähnliche Ideen gruppieren, Muster identifizieren
  • Graphic Recording: Zeichner visualisiert die Ernte live
Der Harvest sollte mindestens 20 Minuten dauern. Ein gehetzter Harvest entwertet die vorangegangenen Gespräche.

Varianten und Anpassungen

Progressive Fragen

Statt drei Runden zur selben Frage: Jede Runde eine aufbauende Frage.

  • Runde 1: „Was ist das eigentliche Problem?"
  • Runde 2: „Was wäre möglich, wenn wir es lösen?"
  • Runde 3: „Was können wir konkret tun?"
Diese Progression führt von Analyse über Vision zu Handlung.

Thementische

Bei mehreren Unterthemen: Jeder Tisch hat ein anderes Thema. Teilnehmer wählen, welche Tische sie besuchen. Ähnlich wie Open Space, aber strukturierter.

Speed Café

Kürzere Runden (10–15 Minuten), mehr Rotationen. Gut für schnelle Ideensammlung, weniger für Tiefgang.

Virtual World Café

Mit Breakout-Rooms in Zoom/Teams und digitalen Whiteboards (Miro, Mural). Funktioniert, verliert aber die Café-Atmosphäre. 67% der Facilitatoren bewerten virtuelle World Cafés als „weniger wirkungsvoll" als physische (IAF Global Survey 2024).

Wann World Café funktioniert – und wann nicht

Funktioniert gutFunktioniert nicht
Komplexe, offene FragestellungenJa/Nein-Entscheidungen
Diverse Perspektiven erwünschtExpertenwissen dominiert
20–200 TeilnehmerWeniger als 12 Personen
Genug Zeit (mind. 2 Stunden)Zeitdruck unter 90 Minuten
Ergebnisoffener ProzessLösung steht schon fest
Vertrauen in kollektive IntelligenzTop-down-Kultur

Häufige Fehler

  • Frage nicht durchdacht: Oberflächliche Frage = oberflächliche Gespräche
  • Zu wenige Runden: Zwei Runden reichen nicht für echte Vernetzung
  • Kein Harvest: Die Energie verpufft ohne gemeinsame Ernte
  • Zu große Tische: Mehr als 6 Personen = passive Teilnehmer
  • Ergebnis vorweggenommen: Management hat schon entschieden – warum dann fragen?

World Café in Organisationen

Das World Café eignet sich hervorragend für organisationale Fragen: Strategieentwicklung, Kulturwandel, Produktinnovation, Mitarbeiterbeteiligung. Die Methode gibt vielen Menschen Stimme und generiert Ideen, die in Führungskreisen nie entstanden wären.

Anwendungsbeispiele

  • Strategieentwicklung: 80 Führungskräfte diskutieren strategische Optionen
  • Post-Merger-Integration: Mitarbeiter beider Unternehmen vernetzen sich
  • Produktideen: Kunden und Entwickler im gemeinsamen Dialog
  • Community-Planung: Bürger gestalten ihre Nachbarschaft
  • Konferenz-Session: 100 Konferenzteilnehmer vertiefen ein Keynote-Thema
Praxis-Tipp: Kombiniere World Café mit Entscheidungsprozessen. Ein Café allein produziert keine Entscheidungen, aber es bereitet sie vor. Die generierten Ideen fließen in nachfolgende Workshops oder Management-Reviews.

Vorbereitung: Checkliste für Hosts

4 Wochen vorher

  • [ ] Ziel und Kernfragen definieren
  • [ ] Raum buchen (richtige Größe, Café-Potential)
  • [ ] Teilnehmerkreis einladen
  • [ ] Catering organisieren

1 Woche vorher

  • [ ] Fragen finalisieren und testen
  • [ ] Materialien beschaffen (Tischdecken, Stifte, Deko)
  • [ ] Tisch-Gastgeber identifizieren (optional)
  • [ ] Harvest-Methode planen

Am Tag

  • [ ] Raum 1–2 Stunden vorher einrichten
  • [ ] Atmosphäre schaffen (Licht, Musik, Dekoration)
  • [ ] Materialien auf Tische verteilen
  • [ ] Tech-Check (Mikrofon, Timer, ggf. Musik)

Fazit: Kollektive Intelligenz freisetzen

Das World Café ist mehr als eine Methode – es ist eine Philosophie: Die Überzeugung, dass kollektive Weisheit entsteht, wenn Menschen in einer einladenden Atmosphäre über bedeutsame Fragen sprechen. Die Rotation vernetzt Ideen, die Café-Atmosphäre senkt Barrieren, die Dokumentation auf Tischdecken macht Denken sichtbar.

Für Organisationen, die die Intelligenz ihrer Mitarbeiter nutzen wollen, ist das World Café ein Geschenk. Es gibt Menschen Stimme, die in klassischen Meetings schweigen. Es verbindet Silos, die sonst getrennt bleiben. Es generiert Ideen, die kein Einzelner hätte.

Die Investition ist überschaubar: ein halber Tag, ein passender Raum, Kaffee und gute Fragen. Der Return kann transformativ sein.


Wie viele Teilnehmer sind ideal?

Das World Café funktioniert ab 12 Teilnehmern, entfaltet seine Kraft aber bei 20–200 Personen. Unter 12 sind zu wenige Tische für bedeutsame Rotation. Über 200 wird der Harvest herausfordernd, ist aber machbar.

Müssen die Tisch-Gastgeber vorab bestimmt werden?

Nein. Der Gastgeber kann sich spontan ergeben – einfach die Person, die am Tisch bleibt. Bei wichtigen Themen kann es helfen, erfahrene Gastgeber vorab zu briefen, aber Pflicht ist es nicht.

Was passiert mit den Ergebnissen nach dem Café?

Die Tischdecken werden fotografiert, die Harvest-Ergebnisse dokumentiert und an Teilnehmer versendet. Wichtig: Konkretes Follow-up planen. Wer verarbeitet die Ideen? Wann wird über Umsetzung entschieden?

Kann man World Café remote durchführen?

Ja, mit Breakout-Rooms und digitalen Whiteboards. Die Café-Atmosphäre geht verloren, aber der Grundprozess funktioniert. Plane längere Zeiten für Rotation und sei expliziter mit Instruktionen.

Wie gehe ich mit dominanten Teilnehmern um?

Die kleine Tischgröße (4–6) begrenzt Dominanz natürlich. Zusätzlich: In der Einführung betonen, dass alle Stimmen zählen. Der Gastgeber am Tisch kann sanft moderieren. Bei Extremfällen: Einzelgespräch in der Pause.


Stand: Dezember 2025

Quellen: The World Café Community Foundation Juanita Brown & David Isaacs – The World Café: Shaping Our Futures Through Conversations That Matter IAF Global Facilitation Survey 2024