Appreciative Inquiry Summit: Großgruppen-Veränderung durch Stärken-Fokus

Entwickelt von David Cooperrider und Suresh Srivastva an der Case Western Reserve University, hat Appreciative Inquiry seit den 1980er Jahren die Organisationsentwicklung revolutioniert. Studien zeigen: AI-basierte Veränderungsprozesse haben eine 40% höhere Erfolgsquote als problemorientierte Ansätze (Journal of Applied Behavioral Science). Unternehmen wie Verizon, John Deere, BBC und die U.S. Navy haben AI Summits für tiefgreifende Transformation genutzt.
Die Grundphilosophie: Worauf wir fokussieren, wächst
Appreciative Inquiry basiert auf einer einfachen Prämisse: Organisationen entwickeln sich in die Richtung, auf die sie ihre Aufmerksamkeit lenken. Wer ständig nach Problemen sucht, findet Probleme. Wer nach Stärken und Erfolgen sucht, findet Potenzial.
Die fünf Prinzipien von AI
| Prinzip | Kernaussage |
|---|---|
| Konstruktivistisch | Wir erschaffen Realität durch unsere Gespräche und Fragen |
| Simultaneität | Die Frage selbst verändert bereits – Fragen und Wandel sind nicht getrennt |
| Poetisch | Organisationen sind wie Texte – sie können endlos neu interpretiert werden |
| Antizipatorisch | Unsere Bilder der Zukunft leiten unser heutiges Handeln |
| Positiv | Positive Fragen erzeugen positive Veränderung |
Das Simultaneitätsprinzip ist besonders kraftvoll: Die Art, wie wir fragen, bestimmt, was wir finden. „Was sind deine größten Frustrationen bei der Arbeit?" aktiviert andere Gedanken als „Wann bist du stolz auf unsere Zusammenarbeit?". Beide Fragen sind legitim, aber sie führen in verschiedene Richtungen.
Der 4-D-Zyklus: Vom Entdecken zum Handeln
Jeder AI Summit folgt dem 4-D-Zyklus: Discovery (Entdecken), Dream (Träumen), Design (Gestalten), Destiny (Verwirklichen). Dieser Zyklus ist kein linearer Prozess, sondern eine spiralförmige Bewegung von Vergangenheit über Zukunft zu konkreter Aktion.
Discovery: Was gibt uns Leben?
In der Discovery-Phase erkunden Teilnehmer die besten Momente der Organisation. Durch strukturierte Interviews sammeln sie Geschichten von Erfolg, Stolz und Wirksamkeit.
Leitfragen:
- „Erzähle von einer Zeit, als du dich wirklich lebendig und engagiert bei der Arbeit fühltest. Was ist passiert?"
- „Was schätzt du am meisten an dir selbst, an deinem Team, an dieser Organisation?"
- „Was sind die Kernfaktoren, die diese Organisation zum Gedeihen bringen?"
Dream: Was könnte sein?
In der Dream-Phase stellen sich Teilnehmer die ideale Zukunft vor – ohne die Einschränkungen des „Wie". Die Energie der Discovery-Geschichten treibt die Vision an.
Typische Übung: „Es ist drei Jahre später, und unsere Organisation hat sich spektakulär entwickelt. Ein Journalist schreibt einen Artikel über uns. Was steht darin? Was haben wir erreicht? Wie arbeiten wir zusammen?"
Die Dream-Phase erzeugt eine geteilte Vision. Nicht die Vision einer Einzelperson, sondern die kollektive Vorstellung von hunderten oder tausenden Menschen.
Design: Wie könnte es aussehen?
In der Design-Phase werden konkrete Strukturen, Prozesse und Verhaltensweisen entwickelt, die die Vision unterstützen. Die Teilnehmer schreiben „Provokative Propositionen" – Zukunftsaussagen, die beschreiben, wie die Organisation funktionieren wird.
Beispiel für eine Provokative Proposition: „Unsere Teams treffen Entscheidungen autonom und schnell. Hierarchie dient der Unterstützung, nicht der Kontrolle. Führungskräfte fragen ‚Wie kann ich helfen?' statt zu delegieren."
Die Design-Phase übersetzt Träume in Struktur. Sie antwortet auf die Frage: „Wenn wir so sein wollen, wie müssen wir organisiert sein?"
Destiny: Was werden wir tun?
In der Destiny-Phase (früher „Delivery") committen sich Teilnehmer auf konkrete Handlungen. Gruppen formieren sich um Initiativen, Projekte entstehen, Verantwortlichkeiten werden übernommen.
Der Schlüssel: Selbstauswahl. Niemand wird zu etwas verpflichtet. Menschen engagieren sich für das, was sie begeistert. Diese intrinsische Motivation erzeugt Ownership, die kein Management-Diktat erreicht.
Der AI Summit: Großgruppen-Format
Teilnehmerzahl und Zusammensetzung
Ein AI Summit bringt 50 bis 2000 Menschen zusammen – Mitarbeiter aller Ebenen, Kunden, Partner, manchmal sogar Wettbewerber. Die Vielfalt ist gewollt: Je mehr Perspektiven, desto reicher die Vision.
Die Zusammensetzung folgt dem „Whole System in the Room"-Prinzip:
- Alle Hierarchieebenen vertreten
- Alle Abteilungen/Funktionen vertreten
- Externe Stakeholder eingeladen
- Diversity in Alter, Hintergrund, Dienstalter
Zeitrahmen
| Format | Dauer | Geeignet für |
|---|---|---|
| AI Mini-Summit | 1 Tag | Erste Erfahrungen, kleine Themen |
| Standard-Summit | 2 Tage | Strategische Themen, mittlere Gruppen |
| Extended Summit | 3–4 Tage | Tiefgreifende Transformation, große Gruppen |
Klassische Aufteilung bei 3 Tagen:
- Tag 1: Discovery (vormittag), Dream (nachmittag)
- Tag 2: Dream (abschluss), Design (hauptteil)
- Tag 3: Destiny, Action Planning, Closing
Raumsetup
Der Raum ist in runde Tische aufgeteilt (max. 8 Personen pro Tisch). Jeder Tisch ist eine Mikro-Community. Die Tische sind gemischt – keine Abteilungs-Silos.
- Große Fläche: 5–8 m² pro Person
- Runde Tische: Für Dialog, nicht Frontalvortrag
- Bühne/Plenumsbereich: Für Inputs und Sharing
- Wandflächen: Für Dokumentation und Galerie-Walks
Die Rolle des Moderators (AI Practitioner)
Der AI Practitioner moderiert nicht im klassischen Sinne – er hält den Rahmen, erklärt den Prozess und vertraut auf die Weisheit der Gruppe. Die Expertise liegt in der Prozessführung, nicht im Inhalt.
Aufgaben
- Fragen designen: Die AI-Fragen bestimmen die Richtung
- Prozess erklären: Jede Phase einführen und anleiten
- Zeit managen: Den 4-D-Zyklus durch die Tage führen
- Energie moderieren: Auf Gruppendynamik achten, bei Bedarf anpassen
- Ernte sichern: Ergebnisse dokumentieren und sichtbar machen
Was der Practitioner NICHT tut
- Lösungen vorgeben
- Inhaltlich Stellung beziehen
- Probleme „korrigieren"
- Negative Beiträge unterdrücken
AI Summit vs. klassischer Change-Prozess
| Aspekt | Klassischer Change | AI Summit |
|---|---|---|
| Startpunkt | Problemdiagnose | Stärken-Erkundung |
| Frage | Was läuft falsch? | Wann waren wir am besten? |
| Expertentum | Berater analysieren | Alle sind Experten |
| Emotion | Oft defensiv | Meist energetisch |
| Geschwindigkeit | Monate der Analyse | Tage zum Handeln |
| Ownership | Management verantwortet | Alle committen |
Der fundamentale Unterschied: Klassische Change-Prozesse beginnen mit Gap-Analyse – wo stehen wir, wo wollen wir hin, was fehlt. AI beginnt mit Positive Core – was macht uns stark, wie können wir mehr davon schaffen.
Ich habe beide Ansätze erlebt. Bei problemorientierten Interventionen verteidigen sich Menschen, rechtfertigen den Status quo, werden müde. Bei AI-Summits erzählen sie stolz von Erfolgen, werden energetisch, entwickeln Visionen. Der Unterschied ist spürbar – nicht nur in der Atmosphäre, sondern in den Ergebnissen.
Kritische Würdigung: Grenzen von AI
Appreciative Inquiry ist kein Allheilmittel. Das Format hat Grenzen, die Praktiker kennen sollten.
Wann AI problematisch ist
- Echte Krisen: Wenn das Haus brennt, muss gelöscht werden – nicht über Stärken philosophiert
- Toxische Kulturen: Bei echtem Mobbing, Diskriminierung, Machtmissbrauch reicht AI nicht
- Vertrauensbruch: Wenn Management AI nutzt, um Probleme zu ignorieren, schadet das mehr als es hilft
- Zynische Teilnehmer: Wenn Menschen den Ansatz als „Schönfärberei" empfinden
Die „Ja, aber..."-Falle
Manche kritisieren AI als naiv: „Wir können doch nicht nur über Positives reden!" Die Antwort: AI ignoriert Probleme nicht, sondern reformuliert sie. Statt „Unsere Kommunikation ist schlecht" wird die Frage „Wann hat unsere Kommunikation brilliert und wie schaffen wir mehr davon?"
Diese Reformulierung ist keine Verdrängung, sondern eine Richtungsänderung. Die Probleme werden adressiert – aber durch Aufbau des Positiven, nicht durch Analyse des Negativen.
Praxisbeispiel: Verizon AI Summit
Eines der bekanntesten AI-Beispiele: Verizon nutzte 2007 einen Summit mit 500 Teilnehmern, um ihre Customer Experience zu transformieren.
Ausgangslage: Kundenzufriedenheit auf Talfahrt, Mitarbeiter demotiviert.
Klassischer Ansatz wäre: Analysieren, was schiefläuft, Maßnahmen ableiten, implementieren.
AI-Ansatz: 500 Mitarbeiter, Kunden und Partner erkunden gemeinsam: „Wann haben wir Kunden begeistert? Was war der magische Faktor?" Daraus entstanden Visionen und konkrete Initiativen.
Ergebnis: Kundenzufriedenheit stieg innerhalb eines Jahres um 20 Punkte, Mitarbeiterengagement um 15%. Die Initiativen kamen nicht vom Management, sondern von den 500 Summit-Teilnehmern, die sie anschließend umgesetzt haben.
AI Summit vorbereiten: Checkliste
3–6 Monate vorher
- [ ] Auftragsklärung: Was soll der Summit erreichen?
- [ ] Stakeholder-Mapping: Wer muss dabei sein?
- [ ] Core-Team bilden: 8–15 Personen zur Planung
- [ ] Location und Termin: Genug Platz, 2–4 Tage blockieren
- [ ] Budget: Location, Catering, Material, ggf. externe Moderation
6–4 Wochen vorher
- [ ] Affirmatives Thema definieren: Der Fokus des Summits
- [ ] Interview-Guide entwickeln: Fragen für Discovery-Phase
- [ ] Pre-Summit-Interviews: 30–50 Teilnehmer vorab interviewen
- [ ] Einladungen: Diverse Zusammensetzung sicherstellen
1 Woche vorher
- [ ] Materialien: Flipcharts, Marker, Post-its, Interview-Guides
- [ ] Raumsetup planen: Tischordnung, Technik
- [ ] Ablaufplan finalisieren: Tagesstruktur, Zeiten
- [ ] Core-Team briefen: Wer moderiert welche Session?
AI Summit remote durchführen
Virtuelle AI Summits sind möglich – mit deutlichen Anpassungen. Die Energie eines physischen Summits ist schwer zu replizieren, aber die Methode funktioniert auch digital.
Anpassungen für Remote
- Kürzere Sessions: 3–4 halbe Tage statt 2 volle Tage
- Breakout-Rooms: Für Tischgruppen und Interviews
- Digitale Whiteboards: Miro/Mural für visuelle Dokumentation
- Asynchrone Elemente: Pre-Summit-Arbeit ausweiten
- Energie-Management: Mehr Pausen, interaktive Elemente
Technische Anforderungen
- Stabile Videokonferenz für 50–500 Teilnehmer
- Breakout-Room-Funktion mit flexibler Zuweisung
- Digitales Whiteboard-Tool mit Echtzeit-Kollaboration
- Dokumentations-System für Interview-Ergebnisse
Fazit: Veränderung, die von innen kommt
Der Appreciative Inquiry Summit ist ein radikaler Gegenentwurf zu traditionellem Change Management. Statt von oben nach unten, von Problem zu Lösung, von Experten zu Betroffenen – von innen nach außen, von Stärke zu Vision, von allen gemeinsam.
Das Format funktioniert, weil es menschliche Psychologie respektiert: Menschen verteidigen sich gegen Kritik, aber sie blühen auf bei Wertschätzung. Sie widersetzen sich auferlegtem Wandel, aber sie engagieren sich für selbst entwickelte Visionen. AI nutzt diese Dynamiken, statt gegen sie zu arbeiten.
Für Organisationen, die bereit sind, ihre Mitarbeiter als Quelle der Weisheit zu sehen – nicht als Problem, das gemanagt werden muss – ist der AI Summit transformativ. Die Investition von 2–4 Tagen kann Jahre beschleunigten Wandels freisetzen.
Ignoriert AI nicht echte Probleme?
Nein, aber es reformuliert sie. Statt „Kommunikation ist schlecht" wird gefragt „Wann funktionierte Kommunikation hervorragend?". Das Problem wird adressiert – durch Aufbau des Positiven, nicht durch Analyse des Negativen.
Wie groß sollte ein AI Summit sein?
Minimum 50, optimum 100–500, maximum 2000. Unter 50 ist es eher ein Workshop als ein Summit. Über 500 wird die Logistik anspruchsvoll, ist aber machbar.
Wer sollte am Summit teilnehmen?
So viele Stakeholder wie möglich – alle Ebenen, alle Funktionen, externe Partner und Kunden. Das „Whole System in the Room"-Prinzip ist zentral für AI. Je diverser, desto reicherer die Vision.
Was passiert nach dem Summit?
Die Destiny-Phase definiert Initiativen und Verantwortliche. Nach dem Summit müssen diese Initiativen nachverfolgt werden. Ein Steering Committee oder AI-Botschafter helfen, Momentum zu erhalten.
Brauche ich einen zertifizierten AI Practitioner?
Für kleine Workshops kann man AI-Elemente selbst anwenden. Für einen echten Summit mit 100+ Personen ist ein erfahrener Practitioner dringend empfohlen. Die Methode ist nuanciert, und die Moderation eines Summits ist anspruchsvoll.
Stand: Dezember 2025
Quellen: David Cooperrider & Diana Whitney – Appreciative Inquiry: A Positive Revolution in Change Journal of Applied Behavioral Science – AI Effectiveness Studies AI Commons – Global Research & Practice Reports Case Western Reserve University – Appreciative Inquiry Research


