Barcamp: Die Unkonferenz für Wissensaustausch & Innovation

Das Format entstand 2005 in der Tech-Szene als Reaktion auf die exklusiven „Foo Camps" von Tim O'Reilly. Heute gibt es weltweit tausende Barcamps pro Jahr – von lokalen Community-Treffen bis zu Unternehmensveranstaltungen mit hunderten Teilnehmern. Die Stärke des Formats: Es aktiviert das Wissen aller Anwesenden, nicht nur eingeladener Experten.
Das Barcamp-Prinzip: Jeder ist Experte
Barcamps basieren auf der Überzeugung, dass wertvolles Wissen in jedem Teilnehmer steckt – nicht nur in bezahlten Referenten. Das Format gibt diesem Wissen eine Bühne. Die Trennung zwischen Speakern und Publikum wird aufgehoben.
Die Grundregeln (nach den Originalregeln von 2005)
| Regel | Bedeutung |
|---|---|
| Regel 1: Sprich über das Barcamp | Teile Erkenntnisse, twittere, blogge |
| Regel 2: Blogge über das Barcamp | Dokumentation und Verbreitung erwünscht |
| Regel 3: Wer zum ersten Mal da ist, muss sprechen | Keine passiven Konsumenten (wird locker gehandhabt) |
| Regel 4: Keine Vorträge, sondern Gespräche | Sessions sind interaktiv, keine Frontalveranstaltungen |
| Regel 5: Keine Sponsoren-Pitches | Verkaufsveranstaltungen sind tabu |
Regel 3 klingt einschüchternd, wird aber meist als Einladung verstanden: Du hast etwas beizutragen, auch wenn du es noch nicht weißt. Viele erste Barcamp-Besucher entdecken, dass ihr Wissen für andere wertvoll ist.
Warum das Format Hierarchien auflöst
In klassischen Konferenzen gibt es Experts (auf der Bühne) und Lernende (im Publikum). Das Barcamp beseitigt diese Trennung. Der CEO sitzt neben dem Berufseinsteiger, beide können Sessions anbieten, beide lernen voneinander.
Forschung zeigt: In Barcamp-Settings werden 67% mehr Fragen gestellt als in klassischen Konferenz-Sessions (Journal of Organizational Learning). Die Schwelle zur Beteiligung sinkt, wenn alle gleichgestellt sind.
Ablauf: Von der leeren Wand zum vollen Programm
Morgen: Session-Planung (30–60 Minuten)
Alle Teilnehmer versammeln sich. Wer eine Session anbieten möchte, stellt sich kurz vor (30 Sekunden), nennt das Thema und klebt es an die Session-Wand. Die Wand zeigt Zeitslots und Räume.
Der typische Pitch:
- „Hi, ich bin Lisa"
- „Mein Thema: Machine Learning für Anfänger"
- „Ich erkläre die Grundlagen und wir diskutieren Use Cases"
- „Wer Interesse hat, kommt in Raum 3 um 10:00"
Vormittag & Nachmittag: Sessions (je 45–60 Minuten)
Die Sessions laufen parallel. Jeder besucht, was ihn interessiert. Das „Gesetz der zwei Füße" gilt: Wenn du nicht lernst oder beiträgst, geh woanders hin.
Session-Formate sind vielfältig:
- Vortrag mit Diskussion: 15 Min. Input, 30 Min. Diskussion
- Workshop: Alle arbeiten gemeinsam an etwas
- Diskussionsrunde: Der Host stellt Fragen, alle diskutieren
- Hands-on: Live-Coding, Prototyping, praktische Übung
- Erfahrungsaustausch: „Wer hat Erfahrung mit X?"
Zwischen den Sessions: Networking
Die Pausen sind essenziell. Hier entstehen die informellen Gespräche, die oft wertvoller sind als die Sessions selbst. Gute Barcamps planen großzügige Pausenzeiten ein.
Abschluss: Closing Circle (15–30 Minuten)
Am Ende versammeln sich alle. Kurze Reflexion: Was war das Highlight? Was nimmst du mit? Manche Barcamps enden mit Feedback zur Veranstaltung selbst, um für nächstes Mal zu lernen.
Die Session-Wand: Herz des Barcamps
| Zeit | Raum 1 | Raum 2 | Raum 3 | Raum 4 |
|---|---|---|---|---|
| 10:00–10:45 | ML Basics | Agile Myths | UX Research | Blockchain |
| 11:00–11:45 | Python Tips | Remote Work | Design Sprint | [leer] |
| 13:00–13:45 | AI Ethics | Startup Fails | Facilitation | Crypto |
| 14:00–14:45 | DevOps | Leadership | Sketch Skills | Open Slot |
Die Session-Wand ist das visuelle Herz des Barcamps. Sie zeigt, was wann wo passiert – und sie entwickelt sich dynamisch. Sessions können noch am Tag verschoben werden, wenn Interesse größer oder kleiner ist als erwartet.
Best Practice: Große Post-its oder Karteikarten für jede Session. Marker in verschiedenen Farben (z.B. Grün = Anfänger, Rot = Fortgeschrittene). Die Wand muss für alle sichtbar und erreichbar sein.
Barcamp organisieren: Schritt für Schritt
3–6 Monate vorher
- Thema definieren: Offenes Barcamp oder thematisch fokussiert (BarCamp Healthcare, EdCamp, etc.)
- Location buchen: Mindestens 3–5 Räume für parallele Sessions, plus Plenumsraum
- Budget planen: Location, Catering, ggf. Speaker-Förderung
- Website launchen: Anmeldung, Infos, Sponsoren-Akquise
4 Wochen vorher
- Teilnehmer einladen: Social Media, Mailinglisten, Communities
- Sponsoren finalisieren: Für Catering, Location, Merchandise
- Helfer rekrutieren: Registrierung, Technik, Moderation
- Materialien bestellen: Post-its, Marker, Namensschilder
1 Woche vorher
- Raumplan finalisieren: Wo ist was?
- Tech-Check: Beamer, WLAN, Mikrofone
- Briefing für Helfer: Wer macht was?
- Erinnerung an Teilnehmer: Mit Session-Ideen kommen!
Am Tag
- Früh da sein: 1–2 Stunden vor Start
- Registrierung aufbauen: Namensschilder, Willkommenspakete
- Session-Wand vorbereiten: Leer, aber strukturiert
- Opening moderieren: Regeln, Ermutigung, Pitch-Runde
- Troubleshooting: Spontane Probleme lösen
Was gute Barcamp-Sessions ausmacht
Die besten Barcamp-Sessions sind keine Vorträge, sondern Gespräche. Der Host bringt ein Thema ein und moderiert, aber das Wissen kommt von allen.
Session-Typen im Vergleich
| Typ | Beschreibung | Energie | Risiko |
|---|---|---|---|
| Mini-Vortrag | 15 Min. Input, dann Q&A | Mittel | Wird zu Frontal |
| Diskussion | Host stellt Fragen, alle antworten | Hoch | Kann abdriften |
| Workshop | Alle arbeiten gemeinsam | Sehr hoch | Braucht Vorbereitung |
| Fishbowl | Innerer Kreis diskutiert | Hoch | Braucht Platz |
| Demo | Live zeigen, wie etwas funktioniert | Mittel | Tech-Fails |
| Ask Me Anything | Host beantwortet alle Fragen | Mittel | Braucht starken Host |
Tipps für Session-Hosts
- Keine Folien-Schlachten: Wenige Slides, viel Dialog
- Fragen stellen: „Was sind eure Erfahrungen?" aktiviert
- Timeboxen: Bei 45 Minuten: 15 Min. Input, 30 Min. Diskussion
- Dokumentieren: Foto vom Flipchart, Notizen teilen
- Demut: „Ich bin kein Experte, aber..." ist okay
Barcamp vs. klassische Konferenz
| Aspekt | Klassische Konferenz | Barcamp |
|---|---|---|
| Programm | Monate vorher festgelegt | Entsteht am Morgen |
| Speaker | Eingeladen, bezahlt | Jeder Teilnehmer |
| Tickets | Oft teuer | Meist kostenlos/günstig |
| Hierarchie | Experten vs. Publikum | Alle gleichgestellt |
| Interaktion | Fragen am Ende | Diskussion durchgehend |
| Dokumentation | Offiziell, später | Sofort, durch Teilnehmer |
Die Stärke des Barcamps: Aktualität und Relevanz. Keine Planungsvorlaufzeit bedeutet: Die Themen sind topaktuell. Keine Speaker-Hierarchie bedeutet: Die Themen spiegeln das echte Interesse der Community.
Herausforderungen und Lösungen
Challenge 1: Zu wenige Session-Vorschläge
Problem: Die Session-Wand bleibt am Morgen leer. Stille peinlich.
Lösung:
- Vorher kommunizieren: „Bring mindestens eine Session-Idee mit"
- Einige „Icebreaker-Sessions" vorbereiten (Orga-Team)
- Im Opening ermutigen: „Jede Idee ist willkommen"
- „Unconference Buddies": Zwei schließen sich zusammen für eine Session
Challenge 2: Sessions werden zu Werbevorträgen
Problem: Teilnehmer nutzen Sessions, um Produkte zu pitchen.
Lösung:
- Regel 5 betonen: Keine Sponsoren-Pitches
- Im Opening klarstellen: „Werbe-Sessions werden abgebrochen"
- Moderation: Bei Verstößen eingreifen
- Feedback-Kultur: Teilnehmer gehen und zeigen so Missfallen
Challenge 3: Ungleiche Session-Verteilung
Problem: Eine Session hat 50 Teilnehmer, andere sind leer.
Lösung:
- Größere Räume für populäre Themen (spontan wechseln)
- Session wiederholen, wenn Nachfrage groß
- Leere Sessions sind okay – Gesetz der zwei Füße
- „Räume können getauscht werden"
Challenge 4: Dominante Teilnehmer
Problem: Einzelne monopolisieren jede Diskussion.
Lösung:
- Session-Hosts ermutigen, aktiv zu moderieren
- „Jeder eine Frage, bevor jemand die zweite stellt"
- Kleinere Gruppen bei kontroversen Themen
- Post-it-Brainstorming statt offener Diskussion
Barcamp für Unternehmen
Interne Barcamps sind ein mächtiges Werkzeug für Wissensaustausch, Innovation und Kulturentwicklung. Sie zeigen: Jeder hat Expertise, die für andere wertvoll ist.
Typische Anwendungen
- Innovation Jam: Mitarbeiter pitchen und entwickeln Produktideen
- Wissenstransfer: Experten teilen Wissen mit Neulingen
- Kulturentwicklung: Themen wie Diversity, Remote Work, Feedback
- Strategiekommunikation: Führung präsentiert, alle diskutieren
- Onboarding: Neue Mitarbeiter lernen von vielen, nicht nur HR
Besonderheiten interner Barcamps
- Hierarchie-Sensibilität: Führungskräfte sollten zuhören, nicht dominieren
- Psychologische Sicherheit: Kritische Sessions müssen möglich sein
- Follow-up: Was passiert mit den Ideen danach?
- Zeit geben: Barcamp während der Arbeitszeit, nicht als Feierabend-Event
Remote-Barcamp durchführen
Virtuelle Barcamps funktionieren – mit Anpassungen. Die spontane Energie eines physischen Barcamps ist schwer zu replizieren, aber die Grundprinzipien bleiben gültig.
Tools und Setup
- Videokonferenz: Zoom, Teams, Gather.town für „Räume"
- Session-Board: Miro oder Trello für die Session-Wand
- Dokumentation: Google Docs für jede Session
- Networking: Breakout-Rooms, Wonder.me, oder Slack-Channels
Anpassungen für Remote
- Kürzere Sessions: 30–40 statt 45–60 Minuten
- Mehr Pausen: Online-Ermüdung ist real
- Explizitere Moderation: Wortmeldungen per Chat oder Hand-heben
- Asynchrone Elemente: Session-Vorschläge vorab sammeln (optional)
- Dokumentation wichtiger: Niemand kann später „mal vorbeischauen"
Fazit: Wissen demokratisieren
Das Barcamp ist mehr als ein Konferenzformat – es ist eine Aussage: Jeder hat etwas beizutragen. Wissen ist nicht auf bezahlte Experten beschränkt. Die beste Konferenz entsteht, wenn alle Teilnehmer auch Referenten sind.
Für Communities, Unternehmen und Organisationen, die kollektive Intelligenz nutzen wollen, ist das Barcamp ideal. Es ist günstiger als klassische Konferenzen, relevanter weil aktuell, und aktivierender weil partizipativ.
Das Risiko ist überschaubar: Ja, manche Sessions werden leer sein. Ja, manche Diskussionen driften ab. Aber die Highlights – Sessions, die niemand geplant hätte, Verbindungen, die niemand vorhergesehen hätte – machen das mehr als wett.
Muss ich wirklich eine Session anbieten?
Regel 3 („Erste Barcamp-Besucher müssen sprechen") ist heute eher eine Einladung als eine Pflicht. Du kannst auch nur teilnehmen. Aber: Probier es aus! Viele entdecken, dass ihr Wissen für andere wertvoll ist.
Was, wenn meine Session niemanden interessiert?
Das passiert – und ist okay. Nutze die Zeit für ein Einzelgespräch mit den wenigen Anwesenden oder besuche eine andere Session. Leere Räume sind keine Schande.
Wie finde ich ein Barcamp in meiner Nähe?
Suche nach „Barcamp + [Stadt/Region]" oder schau auf barcamp.org. Viele Communities haben eigene Event-Listen. Twitter-Hashtags wie #barcamp helfen ebenfalls.
Kann ich ein Barcamp auch mit 20 Leuten machen?
Ja, aber es wird eher wie ein informeller Workshop. Unter 30 Personen werden parallele Sessions schwierig. Für kleine Gruppen: 1–2 Räume, weniger Zeitslots, mehr Diskussion.
Wie unterscheidet sich ein Barcamp von Open Space?
Beide nutzen Selbstorganisation, aber Barcamps haben meist festere Zeitslots und längere Sessions. Open Space ist fließender und betont das „Gesetz der zwei Füße" stärker. In der Praxis werden beide Begriffe manchmal synonym verwendet.
Stand: Dezember 2025
Quellen: Barcamp.org – Community Resources Journal of Organizational Learning – Unconference Studies MIT Sloan Management Review – Knowledge Sharing in Organizations


